Dorfgeschichte(n)-2: Das Ende der Steinrassel-Brücke

In loser Reihenfolge wollen wir auf diesen Seiten gerne auch mal Dorfgeschichte(n) herauskramen, vorstellen und dauerhaft festhalten. Hier kommt ein Artikel aus dem April 2003, den ich damals für unsere TSV-Homepage und für EisenachOnline verfasst habe:

Mehr als nur eine Brücke über die Autobahn

„Ist doch nur eine Brücke und kein Mensch …“ Diese Feststellung eines herumstehenden Schaulustigen brachte die Stimmung auf den Punkt. Eigentlich handelte es sich ja nur um ein altes Bauwerk aus Beton, Eisen und Sandstein, das da unter der gewaltigen Wucht der Hammerschläge zertrümmert wurde. Trotzdem beschlich viele Zuschauer ein wehmütiges Gefühl. Es war auch eine Art Abschied. Die Steinrassel-Brücke über der Autobahn 4 oberhalb Herleshausens verschwand in dieser Märznacht für immer in dem Staub der Geschichtsbücher. In technisch sicherlich beeindruckender Art und Weise zerlegten fünf Bagger den altehrwürdigen Brückenbau in kleinste Teile. Ein zügiger Abtransport sorgte dafür, dass die Stelle rund 20 Stunden später schon wieder vom Sonntagsverkehr passiert werden konnte. Nur die Brücke fehlte.

„Die sollte doch mal tausend Jahre halten“, bemerkte jemand und spielte damit auf den Bau der Reichsautobahn Ende der 30er Jahre an. Immerhin kam die Brücke den tausend Jahren schon näher als das Reich selbst. Wohl im Jahre 1938 erbaut, brachte es die Brücke am Weinberg letztlich auf etwa 65 Jahre, erreichte also gerade so das Rentenalter. Doch einen Ruhestand für Brücken, noch dazu aus einer fernen, makelbehafteten Zeit, den gibt es natürlich nicht. Also wich sie den modernen Anforderungen unserer Verkehrswege und machte Platz für drei Spuren in jede Richtung. An die Lücke im Landschaftsbild muss sich der Betrachter erst noch gewöhnen. Vielen Herleshäusern gingen die schrillen Hammerschläge in jener Nacht nämlich nicht nur ins Gehör, sondern gewiss auch aufs Gemüt. Mit der Steinrassel-Brücke – selten kam sie diesem Namen so nahe wie in dieser Nacht – verbinden sich viele Erinnerungen, die es wert sind, noch einmal kurz reflektiert zu werden.

Seit ihrer Fertigstellung nutzten die Einwohner Herleshausens die Brücke als Verbindungsweg vom Dorf in die nördlich gelegenen Wälder, um land- und forstwirtschaftliche Arbeiten zu erledigen genauso wie für Freizeitbelustigungen. Unzählige Sonntagsspaziergänge nahmen über diese Brücke ihren Ausgang oder verkürzten über selbige den direkten Heimweg zum Dorf. Und manchem Dauerläufer erschien sie quasi als Dorfeingang, wenn er nach einer ordentlichen Runde über Kielforst und Schulzenberg schließlich die Brücke erreichte und frohen Mutes heimwärts in die „Zivilisation“ trabte. Die offiziellen Wanderwege „Wartburg-Pfad“ und „Werra-Burgen-Steig “ überquerten mit ihrer Hilfe die Autobahn und brachten den einen oder anderen Wanderfreund an diese Stelle. Die Wegmarkierung war ans alte Geländer gepinselt.

Durch die Brücke blieb nach dem Autobahnbau in den 1930er Jahren auch weiterhin eine Verbindung zwischen Dorf und dem alten Wasserbassin an den „drei Linden“ sowie dem Jüdischen Friedhof weiter oberhalb erhalten. Nachdem in dessen Nachbarschaft Anfang der 40er Jahre ein Friedhof für sowjetische Kriegsgefangene entstanden ist, die 1959 offiziell als Kriegsgräbergedenkstätte eingeweiht wurde, war eine befahrbare Straße zum Waldrand hinauf von noch größerer Bedeutung. Viele Menschen fanden seitdem den Weg über die Brücke, um den Friedhof zu besuchen oder an Gedenkveranstaltungen teilzunehmen. Europäische Jugendlager des VDK unter dem Motto „Arbeit für den Frieden“ führten zu zahlreichen Begegnungen junger Leute unterschiedlicher Nationalitäten, bei denen sie sich um die Pflege der Gedenkstätte kümmerten. Oder man denke nur an die Verwandten der Verstorbenen, die seit den 80er Jahren aus Russland oder benachbarten Ländern kamen, um ihren Angehörigen die Ehre zu erweisen. Für sie muss dieser Weg von ganz besonderen Gefühlen begleitet gewesen sein.

Die wechselhafte Geschichte Herleshausens im vergangenen Jahrhundert ist also eng mit dieser Brücke verbunden. Anfangs präsentierte sich die 1937 als Reichsautobahn begonnene Fahrbahn ja noch in jenem Zustand, wie sie im 2. Weltkrieg nach dem Stopp der Bauarbeiten liegen gelassen wurde. Eine der beiden „Betonpisten“ war, für damalige Verhältnisse, bereits fertiggestellt, für die andere gerade erst die Trasse angelegt. Der Transitverkehr führte bis in die 70er Jahre noch durch den Ort Herleshausen. Sonntags tummelten sich deshalb oft Spaziergängerscharen, Kinder mit Rollern und Fahrrädern oder gar Ausflügler mit Ponykutschen auf der Autobahn. Nahe der Brücke nutzte man den brachliegenden Fahrbahnstreifen auch als Sportfeld. Die Schule führte ihre Bundesjugendspiele durch, und der Turn- und Sportverein 1869 richtete hier, also ganz in der Nähe seiner Turnhalle, leichtathletische Wettkämpfe aus. Die Meterzahlen der Laufstrecken konnte man an den Autobahnfundamenten ablesen. Für Weitwurf und Kugelstoßen reichte der Platz längst aus. Der Verfasser selbst erinnert sich an Zeitfahren gegen die Stoppuhr mit den ersten richtigen Rennrädern zum Fockenberg hinauf. Und im Winter verwandelte sich die Böschung der Steinrassel-Brücke regelmäßig in einen Rodelhang. Wo Jahre später dichtes Gestrüpp wucherte und man sich, inzwischen erwachsen geworden, gar nicht mehr vorstellen konnte, wie das mäßige Gefälle einst für eine Schlittenfahrt ausgereicht haben sollte, herrschte an Wintertagen Hochbetrieb. Während im vorderen, flacheren Teil die Eltern mit ihren Kindern vorsichtige Versuche unternahmen, stürzten sich die Größeren direkt neben der Brücke den vereisten Steilhang hinunter. Nach einer sehr kurzen Abfahrt galt es, unten den Graben neben der Fahrbahn zu überstehen – manchmal hob der Schlitten sogar etwas ab -, bevor die Fahrt bestenfalls auf der anderen Seite am Gegenhang endete.

Osterstau 1974 (Foto: Karlheinz Wilutzky)

Als die alte Autobahn im Dezember 1976 für den Durchgangsverkehr geöffnet und zur richtigen Straße, die von Wommen direkt zum Grenzübergang führte, ausgebaut wurde, verlor sie natürlich ihren Stellenwert als dörflicher Freizeitpark. Dafür kam die Brücke als neuer Aussichts- und Verkehrsbeobachtungspunkt jetzt noch mehr zur Geltung. Vor allem an den „Großstautagen“ vor Ostern und Pfingsten, wenn man am „Tor nach Thüringen“ Schlange stand, bot der Platz am Brückengeländer einen phantastischen Überblick – unter den Füßen die Reihe der Wartenden in ihren 70er-Jahre-Karossen. Geschäftstüchtige Dorfburschen verscherbelten ihnen Fanta- und Coladosen.

Zu dieser Zeit gab es für die örtliche Jugend im Sommer eigentlich nur einen Treffpunkt: die „Drei Linden“. Der Platz oberhalb der steilen, bewachsenen Autobahnböschung, wo sich damals unter den dreimal drei Lindenbäumen sogar Ruhebänke befanden, eignete sich vortrefflich für Lagerfeuer, Zeltplatzromantik und allerlei jugendliche Nachtgelage. Mancher Arbeitsplatz der Eschweger Klosterbrauerei wurde hier gerettet und etliche Meterholzstapel verfielen zu Asche … Die Wiese zwischen Linden und altem Wasserbassin diente als Austragungsort vieler Feierlichkeiten und prägte wesentlich die Jahre der Heranwachsenden, die mehrmals täglich mit ihren Fahrrädern, Mopeds oder ersten Autos die Brücke überquerten. Und nach jenem denkwürdigen Fußball-WM-Skandalspiel gegen Österreich 1982, das man auf dem Fernseher an der Autobatterie, einen Bratwurstrost zur Antenne umfunktioniert, verfolgte, jubelte man fahnenschwenkend von der Brücke den Autofahrern zu – Deutschland war eine Runde weiter und alle sollten´s wissen!

Auch ein paar prominente Zeitgenossen hat die Brücke schon über ihre staubige Oberfläche getragen. Die Ministerpräsidenten Bernhard Vogel (Thüringen) und Roland Koch (Hessen) setzten 1999 Richtung „Russenfriedhof“ über, um eine zentrale Gedenkfeier der beiden Bundesländer zum Volkstrauertag abzuhalten. Kurz nach der Grenzöffnung im Juli 1990 fuhr Marshall Kulikow, Oberbefehlshaber des Warschauer Paktes, den Eckweg hinauf zum Soldatenfriedhof, und mit Hannelore Rönsch entdeckte im Juli 1992 auch eine Bundesfamilienministerin Herleshausen und diese kleine Brücke auf der Landkarte. Wie viele bekannte Persönlichkeiten gar unter ihr entlang gefahren sind, ist natürlich nicht überliefert. Da mag sicher die eine oder andere Berühmtheit dabei gewesen sein. Ein Foto zeigt den Mannschaftsbus des FC Bayern München vor der Brücke am Weinberg, gerade auf dem Weg zu einem Freundschaftsspiel nach Erfurt. Aber unwahrscheinlich, dass sich die Kahn, Hoeneß, Hitzfeld & Co. an diesen Moment noch erinnern können. Leider gab es die Brücke im frühen 19. Jahrhundert noch nicht, sonst hätte sie wohl auch Goethe auf einem seiner Wege von Frankfurt nach Thüringen passiert. Oder es gäbe jetzt ein Schild mit der Aufschrift: „Hier rastete Achtzehnhundertpaarundsechzig König Ludwig II. von Bayern als er zur Wartburg unterwegs war und die A 7 von Füssen hinauf genommen hat.“ Schade eigentlich.

Die Einleitung des Herleshäuser Heimatbuches „Kramladen“ beginnt in der Neujahrsnacht 2000 auf jener „Bridge over troubled traffic“ und setzt ihr damit ein Denkmal in dieser schnelllebigen Zeit. Nun kann man bei uns am Dorf nie mehr über dem Autobahnverkehr stehen, aber an das fehlende Bauwerk wird man sich dann schon bald gewöhnt haben. Der Lauf der Zeit eben. Eine Unterführung soll ganz in der Nähe am Wingerot die Verbindung zur anderen Autobahnseite wiederherstellen.

Am letzten Märzwochenende 2003 pilgerten zahlreiche Anwohner zur Abrissstelle. Ein Stückchen Gewohnheit, ein Teil der Dorfgeschichte verschwand aus ihrem Leben. Eine Brücke nur, aber eine mit Erinnerungen. (awy)

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