Liebe Geschichtsinteressierte,
aufgrund der Vielzahl der Angebote zum stehenden Festzug am 2. Juni 2019 und dem großen Engagement eines jeden Einzelnen, war es nicht für jedermann möglich, alles zu sehen. Vielleicht wurde aber der Ausrufer gehört, der einlud, sich auf die Geschichte des Hauses Bahnhofstraße 33 einzulassen. Bernd Mai, der am Festsonntag als historisch gekleideter Ausrufer auftrat, hat zuvor über Wochen recherchiert, um im Keller des einstigen Mädchenpensionates eine kleine Ausstellung zu errichten. Wir dürfen noch einmal dem erzählenden Haus lauschen.
Anette Wetterau
Aus dem Nähkästchen geplaudert – Ein Haus packt aus.
Ich höre die Glocke des Ausrufers von Herleshausen wieder! Seit meiner Jugend war der Ausrufer derjenige, der Neuigkeiten, leider auch traurige Nachrichten zu verkünden hatte. Der letzte Ausrufer war in Herleshausen Herr Reichwein, genannt Reichweins Frieder. Ende 1950 war es vorbei damit. Seit zwei Jahren schlüpft mein Bewohner, der Bernd Mai, wieder in die Figur des Ausrufers. Er schwingt die Glocke, so wie früher Herr Reichwein, und hat auch die passende Stimme, um Nachrichten zu vermitteln.
Doch nun ist es an der Zeit mich vorzustellen. Ich bin das dreistöckige Fachwerkhaus in der Bahnhofstraße 33 in Herleshausen. Anlässlich der 1000- Jahrfeier am 02.06.2019 erstellte Bernd Mai eine kleine Präsentation über meine Lebensgeschichte. Sie kann in meinem Kellergewölbe besichtigt werden.
Gebaut wurde ich 1885 bis 1886. Ja, liebe Architekten und Konstrukteure von heute, damals ging das noch. Ein Jahr war geplant und wurde auch eingehalten. Gebaut wurde ich als ein Mädchenpensionat. Die Eigentümerin, die Tochter des Physikus Adolf Hennenhofer, führte ein strenges, aber gerechtes Zepter.
Täglich wurden meine Zimmer feucht durchwischt, zweimal am Tag geblochert (gebohnert). Die Wäsche musste breit gefaltet, mit dem Bogen nach vorne, millimetergenau übereinander im Schrank liegen. Den Knicks der jungen Damen bei der Begrüßung fand ich immer besonders schick. Auf ordentliche Heftführung in Fachkunde, Literatur, für Rezepte und vieles mehr wurde akribisch geachtet. Höflichkeit, Achtung und Ehrerbietung dem Nächsten gegenüber waren Säulen einer guten Erziehung. Nicht zu vergessen: Immer eine saubere, gestärkte Schürze. Fräulein Hennenhofer legte für die jungen Mädchen evangelischer Konfession besonderen Wert auf die Ausbildung in:
- Vollkommene häusliche Arbeit und Handarbeit
- Weiterbildung in Musik, in französischer und englischer Sprache, Literatur, Kunstgeschichte als auch in Biologie und Naturgeschichte
Der jährliche Pensionspreis betrug 600 Mark. War jemand nur kurzzeitig im Haus, waren monatlich 60 Mark fällig. Fräulein Hennenhofer verstarb am 13.12.1939 im Alter von 84 Jahren bei einem Autounfall. Während ihrer Tätigkeit wohnten 500 Mädchen in meinen Räumen und wurden hier auch bis 1920 ausgebildet. Trotz all der Strenge gab es auch viel Spaß und meine Fräuleins wurden gut auf das Leben vorbereitet.
Dann wurde alles ganz anders. Im Jahr 1920 wurde hier im Parterre eine Arztpraxis eingerichtet. Dr. med. Martin Karl Armin Heßler, Sohn des Prinzenerziehers Heinrich von Heßler am landgräflichen Hof Philippsthal, kam auf Bitte des Landgrafen als Arzt aus Kamerun zur Unterstützung der Praxis Dr. med. Marsch nach Herleshausen. Ihr glaubt das gar nicht, meine Räume sahen aus, als wäre Afrika nach Herleshausen gekommen. Speere, Masken, exotische Fälle hingen an den Wänden. Dr. Heßler war leider nur bis zum 01.11.1920 hier tätig. Man bot ihm eine Stelle als Oberarzt in Philippsthal an.
Ersatz war Gott sei Dank schon da. Der Nachfolger war Dr. med. Hans Riebe (geboren am 23.01.1894 in Trebbin/Kreis Teltow). Er hatte fünf Orte zur Auswahl. Für mich und Herleshausen war es ein Geschenk, dass er sich für uns entschied. Sechs Monate arbeitete er in meinen Räumen mit Dr. Heßler zusammen. Die ersten drei Jahre besuchte er seine Patienten noch mit dem Fahrrad, bei Wind und Wetter. Dann wurde es für ihn besser. Er bekam ein Fahrrad mit Hilfsmotor geschenkt, aber Wind und Wetter blieben.
Dr. Hans Riebe heiratete am 17.12.1920 Ingeborg, geb. Einarson. Zwei Söhne wurden in meinen Räumen in der 1. Etage geboren. So auch am 14.07.1922 Hans Einar Riebe. Er erbte später, am 01.01.1956, die Praxis von seinem Vater. Davor sammelte er als junger Arzt Erfahrung im Burgfeld Klinikum Kassel, wo er Dr. med. Gisela Schwarz aus Berlin kennen und lieben lernte. Aber leider lebten sie nicht mehr in meinen Räumen, denn der Vater baute 1930, schräg gegenüber auf den ehemaligen landgräflichen Spargelfeldern, ein Haus im Bauhausstil mit einer neuen Praxis. Aus Altersgründen wurde diese Praxis am 31.01.1989 geschlossen.
Bei mir zog 1947 Herr Max Bauer in der 1. Etage mit einem Reformhaus ein und blieb bis 1953. Tierfutter, Mottenkugeln, Unkrautvernichtungsmittel und vieles mehr hatte er im Angebot und manchmal roch es sehr eigentümlich. Wusstet Ihr, dass es Reformhäuser (Gesundheitszentralen) fast genauso lange gibt wie mich? Das erste Geschäft eröffnete 1900 Karl August Heynen in Wupperthal-Barmen. Bereits damals waren Bestrebungen in Gang nach naturnaher Lebensweise, ökologischer Landwirtschaft, Vegetarismus. Ja Müsli, Fruchtsäfte, Öle und vieles mehr gab es schon vor 100 Jahren.
Neues Leben begann aber bereits 1931 im Parterre, im Nebengelass und auch im Kellergewölbe, als der Malermeister Reinhold Ackermann das Haus kaufte. Die Geschichte dazu ist rührend: Er ging mit seiner Frau Anna (geb. Rimbach aus Unhausen) bei einem Sonntagsspaziergang bei mir vorbei. Sie sagte: „In diesem Hause mit den großen Fenstern möchte ich gerne wohnen.“ Er fing sofort an Toto zu spielen, und man glaubt es kaum, drei Wochen danach gewann er und kaufte mich für 6200 Mark – zur damaligen Zeit viel Geld. Er baute die Garage zur Straße an, welche als Lager und Verkaufsraum genutzt wurde. Den Balkon der 1.Etage baute er in einen Wintergarten um. Zwischen den zwei großen Fenstern zur Straßenseite schenkte er mir ein schönes Bild. Ein Bauer, der ein Pferd mit Pflug führt. Darüber stand: „Hier arbeitet ein Ackermann“. Herr Ackermann hatte viele Hobbys. Er war Imker und hatte eine Nutria-Zucht. Am Hang des Gartens baute er für die Nutrias ein Biberhaus und darunter höhlenähnliche Behausungen und Wasserbecken. In der Mitte des Gartens entstand ein schöner Brunnen aus Kalksteinfindlingen, der auch die Wasserversorgung der Nutriabecken speiste. Hey, ich hatte einen eigenen Zoo im Garten! – Leider auch mit den Nachteilen, es roch manchmal sehr streng.
Mein Eigentümer Reinhold Ackermann verstarb 1960, das Geschäft wurde aufgegeben. Sein Sohn übernahm das Haus. Die Nutrias wurden abgeschafft und der Brunnen abgebaut. Die Witwe Anna Ackermann wohnte in meinen Räumen im Dachgeschoss bis zu ihrem Tode 1992.
Wieder gab es große Veränderungen. Die innerdeutsche Grenze fiel. Eine neue Firma, Abschleppdienst und Kranarbeiten Horst Jerneitzig zog hier ein. Die Firma wurde 1989 in Neuenhof Thüringen gegründet. Angefangen mit einem Jeep, einem Autoanhänger und einem W50 Kran (7 Tonnen Hubkraft). 1993 zog er mit seiner Frau ins Parterre, seine jüngste Tochter mit Familie in die 1 Etage und Bernd Mai und Jerneitzigs älteste Tochter Astrid und Kinder ins Dachgeschoss. Weitere Technik kam hinzu: Die „Oma“, ein schon in die Jahre gekommener Abschleppwagen mit Kranarm, ein Autokran von PPM mit 40 Tonnen Hubkraft.
Bei dem Job, den die Fam. Jerneitzig hatte, gab es nie Freizeit. Hey, wie viele Menschen waren in meinen Räumen. „Immer für Menschen da zu sein, die in Not sind – das war Horsts Devise. Ob Kinder nachts in der Wohnung zum Schlafen untergebracht wurden oder die Kunden eingeladen wurden, am Tisch Platz zu nehmen, um gemeinsam zu essen. LKW Fahrer, oft auch aus Osteuropa, waren dankbar nach einem Unfall oder einer Panne nicht auf der Straße übernachten zu müssen – vor allem zu Weihnachten. Viele Kunden schreiben heute noch. Das Lied von Tom Astor passt hier sehr gut: “Bitte du kochen mir großen kalten Fuß weil Weihnachten ist Hunger machen heut mir Heimweh nach zu haus.“. Ich hörte so viele Sprachen, erlebte so viele Emotionen der Menschen. – Ach ja! In meiner Garage stand auch der Formel 1 BMW von Ralf Schuhmacher. Ich habe sehr aufgepasst, dass diesem Fahrzeug nichts passiert. Die Firma Jerneitzig wurde 2008 aus gesundheitlichen Gründen geschlossen. Leider verstarb Horst Jerneitzig 2017 nach langer Krankheit.
Mein Bewohner Bernd Mai wurde im Oktober 1994 Angestellter des Allianz Versicherungs-Konzerns. Klein hat er angefangen: Zwei Jahre Grundausbildung zum Versicherungsfachmann (IHK); unterwegs war er als Bezirksinspektor im Raum Westthüringen. Dann Weiterbildung zum Personenversicherungsspezialisten, Unternehmensberater und Vorsorge von Unternehmer und betriebliche Altersvorsorge. In ganz Deutschland war er unterwegs und leider bis 2016 nicht viel zu Hause. Sein Büro war in meinem Kellergewölbe. Jetzt ist er in Vorruherente.
Wie ich schon zu Beginn gesagt habe, Bernd Mai hilft mit, alte Traditionen wieder zu erleben. Man sah ihn als Ausrufer zur Kirmes, zur Vorbereitung der 1000 Jahrfeier, zum Hessentag in Bad Hersfeld. Und er ist stolzes Mitglied des Orga-Teams zur 1000 Jahrfeier in meinem Ort Herleshausen. Und ich bin ein Teil meines Ortes.
Ich stehe seit einiger Zeit zum Verkauf – bin neugierig welche Geschichten ich dann die nächsten 100 Jahre erzählen kann.
Es grüßt das Fachwerkhaus in der Bahnhofstraße 33 nebst Bewohner Bernd Mai
Wer mehr wissen möchte, ist herzlich eingeladen, die kleine Ausstellung „Geschichten eines Hauses“ zu besuchen. Die Garage des Hauses ist letztmalig geöffnet am:
28.08.2019 15.00 bis 18.00 Uhr
08.09.2019 15.00 bis 17.00 Uhr – Danach wird die Ausstellung beendet.
Ich bedanke mich für die Hilfe und Leihgaben bei Prinz Alexis von Hessen, Dr. med. H.-P. Marsch, Klaus Gogler, Helmut Schmidt, Kai Ackermann, Malerfirma Marc Trautvetter
Bernd Mai
Auch die Werra-Rundschau berichtet über das alte Haus in der Bahnhofstraße: “Geschichten eines Hauses”
Ein Gedanke zu “Geschichte eines Hauses”
Dr.Armin Hessler war mein Grossonkel,der Bruder meines Grossvaters Karl Hessler,der Pfarrer in Philippstal war.Das war vielleicht auch mein Grund dass Armin Hessler gerne in Arzt Stelle in Philippstal wechselte. Die vielen interessanten Mitbringsel aus Afrika kenne ich auch noch,sie hingen im Wartezimmer der,Praxis,wo auch noch ein sprechender Papagei im Käfig sass,der die Wartenden Patienten mit seinen Sprüchen unterhielt.Ich habe ihren Artikel über das Haus in Herleshausen mit grossem Interesse gelesen. Rolf Ja ene au s Melsungen.