von Reinhard Höfling, Pfarrer i. R., Fernbreitenbach
In schöner und anerkennenswerter Kontinuität veranstalten die Werratal- und
Rennsteigvereine aus Herleshausen, Lauchröden, Wartha-Göringen, Neuenhof-Hörschel und Stedtfeld eine Gedenkfeier zum Mauerfall am 09. November 1989. Auch in diesem Jahr war sie geplant und vorbereitet. In Vertretung des Gemeindepfarrers von Lauchröden, war ich angefragt, die Andacht zur Feierstunde zu halten. Aus Vorsorge vor der Corona-Pandemie wird es dieses Jahr keine Veranstaltung in gewohnter Weise geben. Trotzdem soll das Gedenken nicht entfallen, daher möchte auch ich Ihnen auf diesem Wege die nachfolgenden Gedanken zukommen lassen:
Gott der Herr spricht: „Es soll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen.“ Sacharja 4, 6
Liebe Leserinnen und Leser!
Unser Leben ist oft so angefüllt, dass wir schon am Abend manchmal nicht mehr wissen, was tagsüber alles gewesen ist! Aber dann gibt es Ereignisse, die sind so markant, dass man noch nach Jahrzehnten genau weiß, womit man persönlich gerade beschäftigt war, als die
Nachricht von diesem Ereignis uns erreicht hat. Zu diesen Ereignissen gehört das Geschehen jenes Donnerstagabends, des 09. Novembers 1989. Eigentlich war es nur eine Pressekonferenz mit Günter Schabowski, damals Sekretär für Informationswesen des Politbüros und ZK der SED, im Fernsehen. Ich selber habe diese Pressekonferenz auch gar nicht gesehen. Einige junge Leute und ich waren gerade in unserem Kirchengemeinderaum in Fernbreitenbach versammelt, um das für den nächsten Abend geplante Friedensgebet vorzubereiten. Noch ganz deutlich habe ich vor Augen als sich plötzlich die Tür öffnete, meine Frau in unsere Runde kam und die Worte sagte: „Die Grenze ist offen!“
Für uns, die wir von Kind auf durch den Wohnort im oder am Sperrgebiet mit der Grenzsituation konfrontiert waren, war diese Nachricht zu groß und zu unvorstellbar, um sie gleich begreifen zu können. Und wenn ich mir heute die Bilder von der damaligen Pressekonferenz anschaue, habe ich den Eindruck, dass weder Günter Schabowski selbst noch die anwesenden Journalisten die Tragweite der ausgesprochenen Worte begriffen haben bzw. begreifen konnten. „Sternstunden der Menschheit“ haben das wohl so an sich, folgt man den Gedanken Stefan Zweigs in seinem gleichnamigen Buch.
Nachdem diese Nachricht in unserer Runde langsam anzukommen begann, war sie für mich eine innere Bestätigung, mit den Friedensgebeten auf dem richtigen Weg zu sein. Besonders, weil mir immer noch dieses mulmige Gefühl, das alle Aktivitäten begleitete, in guter Erinnerung ist. Niemand konnte wirklich wissen, wie die Staatsmacht reagieren würde. Wir dürfen nicht vergessen, die DDR war eine bis an die Zähne bewaffnete Diktatur und Friedensgebete, gar in Grenznähe, konnten ihr nicht wirklich gefallen. Leider müssen wir aus den täglichen Nachrichten immer wieder erfahren, welche furchtbaren Entwicklungen ähnliche Situationen wie bei uns 1989 in vielen Teilen der Welt nehmen können.
Mir hat sich damals ein Bibelwort aus dem Buch des Propheten Sacharja ins Gedächtnis geheftet: „Es soll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen, spricht der Herr Zebaoth.“ Es ist meine feste Überzeugung, dass die ganze Bewegung von 1989 von diesem Geist Gottes bestimmt worden ist. Wer in unzähligen Kirchen der DDR die Hände zum Gebet für einen friedlichen Weg gefaltet hatte, konnte sie danach nicht zur Faust ballen. Das Symbol für den Geist Gottes wurde die leuchtende Kerze, von der einen Hand gehalten und von der anderen Hand vor der Zugluft geschützt. Manchem Polizisten wurde sie sogar in dieser Weise in die Hände gegeben. Dieser Geist hat die Bewaffneten entwaffnet. „Wir haben mit allem gerechnet, nur nicht mit Kerzen und Gebeten!“ Diese Aussage eines Generals bestätigt das Bibelwort: „Es soll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen, spricht der Herr Zebaoth.“
Gerade der 9. November in seiner geschichtlichen Ambivalenz führt uns deutlich vor Augen: Es ist entscheidend, in welchem Geist wir unterwegs, tätig und untätig sind! Darum ist die Erinnerung von grundlegender Bedeutung! In diesem Jahr fällt das Gedenken anders aus. Eine Festveranstaltung mit Festrede, Andacht, Musik und Versorgung für das leibliche Wohl wird es nicht geben. Es ist ein stilleres und vielleicht auch nachdenklicheres Gedenken, vielleicht mit einem Spaziergang und der guten Chance, eigenen Erinnerungen, Gedanken, Erfahrungen und Erlebnissen Raum zu geben.
Und vielleicht fällt es unseren Kindern und Enkeln auf, dass wir plötzlich so nachdenklich oder so freudig gestimmt sind. Wenn sie dann fragen: „Warum schaust Du heute so nachdenklich oder so freudig?“ Dann können wir, nein, dann müssen wir ihnen von allem erzählen, was wir erlebt und gedacht haben und wie es damals war. Dabei dürfen wir nicht vergessen, von dem Geist zu erzählen, der 1989 diesen unvorstellbaren Umbruch zu einem gelungenem friedlichen Jahrhundertereignis werden ließ.
Noch einmal, aus unserer deutschen Geschichte, besonders auch der des 9. Novembers,
können wir lernen, wie sehr gelingendes Leben in Gegenwart und Zukunft vom Geist bestimmt ist, der uns bewegt und leitet!
Es grüßt Sie herzlich und wünscht Ihnen Gottes Segen
Reinhard Höfling, Pfarrer
Weitere Berichte zum Thema Grenze und Grenzöffnung: hier auf herles1000